Letzte Klappe für die Odenwaldschule

Goethehaus ohne Menschen

Was für ein jämmerlicher Abgang! Vor fünf Jahren noch Nummer-eins-Thema in der Tagesschau, dann ein zähes Heckmeck zwischen Opfern und der Schule, jetzt schließlich das banale Ende: Die Odenwaldschule meldet Insolvenz an. Zu wenig Nachfrage.

Wer will seinem Kind denn wirklich für einen Haufen Geld ein Abiturzeugnis anhängen, das mit „Odenwaldschule“ überschrieben ist? Das Stigma säße für die nächsten Jahrzehnte fest. Also Schluss mit dem „berüchtigten Elite-Internat“ (WELT, 26.4.15).

Zurück bleiben ein paar Schüler, die sich mit ihren Eltern eine andere Schule suchen, ein paar Lehrer, die sich nach einem Job in einer anderen Einrichtung umschauen müssen – und viele so genannte Altschüler, die nostalgisch an ihre pubertäre Zeit auf dem Internat zurückdenken:

Alkohol damals. Kein Problem. Kiffen? Na ja. Verboten, aber nicht ganz so schlimm. Freiheit ohne Ende. Der 14-Jährige kann per Anhalter nach Frankfurt fahren, 50 km entfernt, dort Drogen kaufen, und wenn er zum Abendessen zurück ist, dann merkt eigentlich keiner etwas.

Da träumt heute jeder Teenager von. Es war toll, es war verrucht. Die Kleinen machen mit ihrem Familienoberhaupt Nachtwanderungen ohne Lampe durch den finsteren Odenwald. Und am Wochenende geht’s mit Jürgens blauem VW-Bus zur Burg Waldeck. Am Lagerfeuer liest er aus dem „Kleinen Hobbit“ vor. Gebannt starren die Jungs in die Glut. Dann schlüpfen sie in die Schlafsäcke. Am nächsten Tage warten wieder tolle Abenteuer im Wald.

Wie sollen wir 12-jährigen Kinder auch nur eine Ahnung haben, dass sich der kumpelhafte Jürgen vermutlich an der Situation aufgeilt, dass er schon plant, wem er seine Hand in den kleinen Schlafsack stecken wird, um an seinem Geschlechtsteil zu spielen? Das kommt für uns aus dem dunklen Nichts, absolut unerwartet, gänzlich unverständlich, nicht einzuordnen.

Zum Dachboden der kleinen Hütte in der Waldeck führt eine Falltür. Jürgen lässt sie runterfallen, wenn alle oben sind. Keiner kann mehr stehen, der Raum ist zu niedrig. Jürgen entzündet eine Kerze auf einem kleinen Tisch, um den wir uns auf die knarrenden Dielen setzten. Jetzt erklärt er uns Sexpoker. Ein Würfelspiel.

Mann, ist das besonders, ist das aufregend und natürlich auch geheim. Wer eine schlechte Zahl würfelt, muss sich ein Kleidungsstück ausziehen. Irgendwie ist Jürgen ein Glückspilz. Er bleibt immer angezogen, während die kleinen Jungs und die Mädchen, deren Brüste gerade zu wachsen beginnen, schnell teilweise nackt auf dem warmen Dachboden sitzen.

Jürgen war eine Sau. Ihm war es egal, ob Mädchen oder Junge, Hauptsache klein, zart und weich. Er geilte sich sogar daran auf, wenn Kinder einander weh taten.

Er war nicht der Päderast, der wirklich Liebe für die Kinder empfindet, der sich von seinen Kindern alles gefallen lässt, der ihnen verfallen ist, der aber auch nichts dagegen tut und seine schlimmen Neigungen physisch auslebt. Nein, Jürgen war nicht Gerold Becker.

Jürgen war die typische richtige Drecksau, die sabbernd Kinderpornos glotzt. Jürgen war es scheißegal, wie das Leben seiner Opfer nachher aussieht. Ob sie sich mit 15 den Goldenen Schuss setzen, ob sie mit einem Motorrad mutmaßlich vorsätzlich gegen eine Wand rasen und so einfach Schluss machen mit diesem diffusen Elend, das in ihnen herrscht, mit diesem Gefühl, schmutzig zu sein und Schmutz zu sein.

Jürgen hatte eigentlich auch keine Ahnung, dass das passieren würde. Konnte er sich gar nicht vorstellen, so ein toller Kumpel wie er war. Die kleinen Jungs sind doch so gerne bei ihm. Sie kommen freiwillig in seinen Unterricht, sie hängen an seinen Lippen, wenn er so expressiv vorliest, dass sich die Bilder in ihrer kindlichen Phantasie aufbauen und zu leben beginnen. Die Kleinen schauen ihn mit verträumten großen Kinderaugen an.

So fängt man sie wohl ein. So schaffte Jürgen die Voraussetzung, sie gefügig zu machen. Doch es klappte nicht immer.
Auch bei Gerold nicht. Gerold war der Schulleiter der Odenwaldschule. Er war sanft, er war klug. Er war eben Gerold. Viele seiner Schüler werden auch nach Bekanntwerden der ganzen Geschehnisse noch zu ihm stehen. Sie werden sagen: Von diesem Mann habe ich so viel mitbekommen, ich werde ihm immer dafür dankbar sein. Gerold macht alles für die kleinen Jungs, die er liebt. Aber Gerold hat auch eine sehr dunkle Seite.

Er wohnt mit seinen Kindern nur ein paar Häuser neben Jürgen. Zusammen mit der „Familie“ von Wolfgang, dem Musiklehrer. Auch Wolfgang hat es sich direkt unter dem Dach eingerichtet. Offenbar sind diese Plätze beliebt, bieten sie doch immer nur einen einzigen Ausgang als Fluchtmöglichkeit. Wolfgang ließ sich von den Kindern oft in der so genannten „Bettmachpause“ nach den zwei ersten Unterrichtsstunden befriedigen.

Jürgen ist tot. Er starb sehr alt, hat aber den Untergang der Odenwaldschule wegen seiner und der Taten der anderen noch mitbekommen.

Gerold ist tot. Er rauchte viel Reval ohne Filter, ist langsam an einem Lungenemphysem gestorben. Manche sagen, er sei erstickt an seinen Taten. Wenige Tage vor dem 100. Jubiläum seiner Odenwaldschule.

Wolfgang ist tot. Er wurde von denen, die er misshandelt und an sich gebunden hatte, bis zum Tode betreut und gepflegt. Manche dieser Opfer wurden selbst zu Tätern.

Michael ist tot. Der kleine Junge hatte niemanden in dieser Welt. Dann kam Gerold. Michael glaubte an Gerold, doch er fiel nur in ein großes Loch. Michael fuhr Jahre später mit seinem Motorrad frontal gegen eine Wand und starb. So wie viele ehemalige Odenwaldschüler, die eigentlich nicht mal wussten, warum sie aus dem Leben traten.

Gerade in den fünf Jahren, nachdem die Geschehnisse publik wurden, sind viele Opfer gestorben. Sie kamen wohl nicht damit zurecht, dass alles wieder hochgespült wurde. Da war die plötzlich so aufgebrachte Öffentlichkeit, da waren diese mulmigen diffusen Gefühle, die plötzlich wieder hochschwappten. Ein starker beklemmender Druck, der nicht erklärbar war und daher so furchtbar einsam machte. Jetzt wieder. Jahrzehnte später. Eben, weil alles wieder aufgerührt wurde.

Schluss damit! Die neue Leitung der Odenwaldschule macht es genau richtig: Insolvenz, Schließen, Auflösen. Endlich wieder vergessen können!

Und dann kann es womöglich wirklich einen Neuanfang für eine Schule geben: Ein neuer Name, ein neues pädagogisches Konzept, neue Lehrer, neue Schüler, neue Verantwortung.

Paul Geheebs Reformpädagogik ist damit auch insolvent. Mag sein, dass Geheeb klug war und es vielleicht gut meinte. Seine Pädagogik bot aber eine Art Nährboden für das auf der OSO Geschehene. Mag auch sein, dass die meisten Lehrer auf der Odenwaldschule klug waren und es gut meinten, aber sie taten nichts gegen die Zustände, obwohl viele mindestens etwas ahnten.

Es ist gut, dass jetzt die Odenwaldschule aus dem Leben tritt. Die Falltür klappt das letzte Mal zu.